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19. Juli 2005

Maximaler Minimalismus

Kraftwerk als Live-Konserve

Seit meinen letzten Anmerkungen zu einem Kraftwerk-Album ist einige Zeit ins Land gegangen. In der Zwischenzeit gab es eine Maxi-Veröffentlichung, eine Welt-Tournee, die Ankündigung, dass der Katalog (eine digital entstaubte Fassung der Kraftwerk-Alben) erscheinen soll, und … wieder jede Menge Gerüchte. Und nun erschien das erste – offizielle – Live-Album von Kraftwerk unter dem Titel Minimum-Maximum.

Der erste Kommentar meines Freundes Torsten (derjenige, der mich zu Kraftwerk brachte) ging in die Richtung: „Nein. Ich warte auf die DVD.“ Zu weiteren Äußerungen verstieg er sich nicht. Wen wundert’s? Unser Konzertbesuch im Februar 2004 stand rein technisch gesehen unter keinem guten Stern. Unsere Versuche, wenigstens ein paar Soundschnipsel mitzunehmen, wurden von seiner Technik vereitelt. Aber alles nur halb so schlimm: denn jetzt gibt es ja das Live-Album zur Tournee.

Aus grauer Vorzeit

Es gab eine Zeit, in der ein junger Ralf Hütter und ein junger Florian Schneider-Elsleben eine Band mit dem Namen Kraftwerk gründeten. Das war vielleicht weniger ein geplanter Akt – und sehr wahrscheinlich hatte die Gründung wenig von einem Masterplan, die elektronische Musik zu revolutionieren und so die Geschichte der Musik für die nächsten Dekaden zu begründen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die beiden aus dem Vorgängerprojekt Organisation~Kraftwerk heraus nach einer weiteren Möglichkeit suchten, Musik zu machen. Und damit war wohl vor allem elektronische Improviationsmusik gemeint.

Es gab eine Zeit, in der Kraftwerk im Studio mit ihrer Elektronik tüftelten, neue Effekte ausprobierten und das Ergebnis dann auf kleinen Konzerten vorstellten. Denn bekannt war Kraftwerk damals nur in einem kleinen Kreis.

Ich kann wenig dazu sagen – denn zu diesen Zeiten war ich noch nicht einmal Quark im Schaufenster.

Vier Alben und etliche Besetzungswechsel später hatte sich die erste quasistabile Konstellation von Musikern gefunden: Ralf Hütter, Florian Schneider, Wolfgang Flür und Karl Bartos. Zu dieser Zeit waren die Konzerttourneen größer und organsierter geworden und die Improvisation verschwand mehr und mehr aus den Auftritten. Aber die Konzerte begannen damals noch mit den Worten Raphaels aus Goethes Faust:

Die Sonne tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.

Faust. Der Tragödie erster Teil.

Es klingt …

… fast so, als sei man auf dem Konzert dabei. Aber vielleicht bin ich da ja auch vorbelastet – schließlich habe ich beim Hören der CD immer die Bilder aus der Erinnerung im Kopf. Und Entschuldigung, es war einfach mal das beste Konzert, dass ich je erleben durfte.

Auf diesem Album gibt es neben den „üblichen Verdächtigen“ auch zahlreiche Perlen zu hören – zum Beispiel Neonlicht und Dentaku. Letzteres ist für mich auf dem Album auch eine wirkliche Überraschung. Die Aufnahme stammt Tokyo und als das Publikum die ersten Worte des Textes „Bokuwa ongakuka, dentaku katateni//Tashitari, hiitari//Sousashite, sakkyoku suru//Kono botan oseba, ongaku kanaderu“ (bitte nicht schlagen, wenn etwas falsch ist, aber mein Japanisch ist etwas eingerostet) vernimmt, flippen die Leute förmlich aus. Kraftwerk kann eben auch sehr emotionsgeladen sein.

Nachdem Kraftwerk jahrzehntelang den Mythos der präzisen, harten, manchmal kühlen, selten emotionalen Elektronikmusik gefüttert hatten, waren die Konzerttournee und das jetzt vorliegende Live-Album ein interessanter Schritt nach vorn und zurück zu den Wurzeln. Warum? Bei vielen Stücken, die für die Konzerte noch einmal generalüberholt wurden, war tätsächlich wieder etwas von der Improvisation der frühen Kraftwerk-Zeit zu merken. Aero-Dynamik überrascht mit Melodieverläufen, die irgendwie mit den sphärischen Klangteppichen von Radioaktivität (dem Album) verwandt zu sein scheinen. Das Ende von Elektro Kardiogramm klingt, als hätte man einer Hammond-Orgel einen 12-Zylinder implantiert und die vier Herren würden damit jetzt eine Spritztour durch die Dolomiten machen.

„Fühlen Sie die Qualität!“

Ich muss sagen, dass ich der Idee eines Live-Albums meist eher skeptisch gegenüber stehe. Bei Aufnahmen während einer Tour kann einfach zuviel schiefgehen. Qualitativ hochwertige Live-Alben sind nicht umsonst eher selten. Auch eigentlich wirklich gute Bands oder Künstler sind dabei nicht vor metertiefen Griffen ins Klo gefeit. Es ist eben etwas anderes, ob man in einem Studio mit sehr viel Zeit und einigen wirklich guten Profis ein hörenswertes Ergebnis zustandebringt oder ob man während einer knochenharten Tour mit alles andere als studioähnlichen Bedingungen versucht, neben dem kreischenden Publikum tatsächlich auch noch die Band in den Aufnahmen hörbar zu machen. Und hin und wieder gelingt dabei ein kleiner Geniestreich.

Kraftwerk haben es geschafft.

Das Album klingt fantastisch und der Sound hat mich wirklich aus dem Sessel gehauen. Die Tour de France Soundtracks waren mir stellenweise etwas zu baßlastig – auf Minumum Maximum klingt das alles wesentlich ausgewogener. Jeder Sound kommt knackfrisch daher, jeder Effekt wird stimmig eingesetzt. Und man erlebt von Hören zu Hören immer noch Überaschungen: so zum Beispiel der Baßverlauf unter Aero Dynamik, der sich selbst auf meiner Stereo-Anlage um mich herum bewegt.

Heute

Es gibt eine Zeit in der ein nicht mehr ganz so junger Ralf Hütter und ein nicht mehr ganz so junger Florian Schneider mit Ihren Bandkollegen Fritz Hilpert und Henning Schmitz wiederentdecken, was viele in der grauen Vorzeit von Kraftwerk vergessen sahen: die Improvisation. Es wäre falsch, zu behaupten, Kraftwerk hätten jemals die Improvisation vergessen. Der Prozess der Aufnahmen und der Komposition war, wenn man diversen Augenzeugen glauben darf, stets auch ein Prozess der Improvisation, von langen Sessions, in denen die Melodien und Rhythmen immer wieder und wieder wiederholt und abgewandelt wurden. Mit diesem Live-Album kann das nun auch ein Außenstehender wie ich nachvollziehen, der viele Stücke nur von den Studio-Alben kennt.

Was bleibt, ist das Warten auf den Katalog